Leitl
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Österreichs Bild in der EU hängt schief

Der ehemalige WKÖ-Präsident Christoph Leitl über fehlenden Sachverstand in der Politik, die „Wiederaufforstung“ der Steiermark und sein Treffen mit Putin.

Lesedauer: 3 Minuten

Aktualisiert am 08.04.2024

Sie befassen sich in Ihrem neuen Buch mit der EU. Wie geht es ihr derzeit: Ist sie gesund, verschnupft oder ein Wachkomapatient?

Christoph Leitl: In Sachen Sicherheitspolitik und Migration ist sie elend beisammen, im wirtschaftlich-innovativen Bereich dank der Begabungspotentiale der Menschen ist jegliche Hoffnung vorhanden – es braucht allerdings entsprechende Rahmenbedingungen. Gerade den Fragen der Aus- und Weiterbildung, der Kombination von schulischem und beruflichem Wissen muss ein höherer Stellenwert eingeräumt werden. Das würde Europa global einen Wettbewerbsvorteil bringen. 

Laut Eurobarometer ist die Unzufriedenheit mit der EU nirgends größer als in Österreich. Was läuft da schief?

Obwohl wir vom EU-Beitritt immense Vorteile haben und den größten Nutzen ziehen, ist die Bevölkerung sehr kritisch und skeptisch. Darüber wundert man sich auch im Rest Europas. Positiv ist, dass zwei Drittel weiterhin in der EU verbleiben wollen.

Aber warum hat sich seit dem Beitritt das klimatische Empfinden nicht verbessert?

Es hat am Anfang große Erwartungen gegeben. Da liegt es in der Natur der Sache, dass viele Erwartungen entweder nicht erfüllt worden sind oder – wenn sie erfüllt worden sind – das nicht mehr bewusst ist. Dass wir hunderttausende Arbeitsplätze gewonnen haben, dass unsere Exportbetriebe florieren, dass gerade in der Steiermark die Forschungsquote signifikant gestiegen ist und heute im europäischen Regionenvergleich im Spitzenfeld liegt – das sind alles Dinge, auf die man hinweisen muss. Nicht, um sich auf Erfolgen auszuruhen oder die Dinge schönzureden. Im Gegenteil: Das Kritische soll und muss angesprochen werden. Aber man darf auch auf das Positive verweisen. Noch in den 1980er-Jahren galt die Steier­-
mark als „totes Bundesland“ mit Wiederaufforstungsbedarf. Heute hat sie sich zu einem modernen Industrie-, Forschungs-, Bildungs- und Wohlstandsland entwickelt.

Geht die Politik fahrlässig mit dem historischen Erbe der EU um? Was fehlt?

Wir müssen den Sachverstand auf der europäischen Ebene verstärken. Mir ist da derzeit zu viel Ideologie drinnen. Es braucht Leute mit einem pragmatischen Zugang. Jene, die nur Wunschvorstellungen haben und abseits jeglicher Realität agieren, soll man klar darauf hinweisen, dass sie der europäischen Idee und Gemeinschaft und damit auch Österreich keinen guten Dienst erweisen. Es geht nicht nur darum, österreichische Ideen in Brüssel zu vertreten, sondern auch europäische Ideen in Österreich zu verteidigen. Das ist ein Geben und Nehmen. Wer nur einseitig Forderungen aufstellt und glaubt, sie werden erfüllt, der täuscht sich. Wir sind nur zwei Prozent der Bevölkerung der Europäischen Union. 

Missversteht man die Europäische Union als Abholstation für nationale Begehrlichkeiten?

So ist es – man versteht sie als Briefkasten für nationale Wünsche. Das wird auf die Dauer nicht funktionieren. Wer Wünsche hat, muss auch manche Kompromisse mittragen. Man setzt da große Hoffnungen auf uns und erwartet, dass wir Lösungen andenken und nicht Vetokeulen schwingend durch die Lande marschieren.

Wie zuletzt, als Österreich den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien blockiert hat. Das hat mit europäischem Horizont...

… gar nichts zu tun. Oder wenn im zuständigen Ausschuss im Nationalrat beschlossen wird, über Mercosur nicht einmal zu verhandeln, dann greift man sich ja wirklich auf den Kopf.

Wie sieht das Bild Österreichs in der EU derzeit aus?

Es hängt schief. Wir müssen es möglichst schnell wieder geraderichten, bevor der Schaden ein dauerhafter wird. 

Ihr Wunsch an die EU?

Ich wünsche mir, dass  ein Europa, das sich selbst als Friedensidee und Friedensgemeinschaft bezeichnet, auch aktiv mehr tut, dass es zur Wiederherstellung dieses Friedens kommt. Derzeit sind die Positionen einzementiert. Aber man muss sich bemühen, wieder in einen Dialog zu kommen.

Sie haben Wladimir Putin 2014 in Wien empfangen, als Russland schon die Krim besetzt hatte. War das Treffen ein Fehler oder aus damaliger Sicht wichtig?

Ich habe mich bemüht, mit Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur Verbindungslinien zu schaffen im Sinne der Erhaltung eines friedlichen Dialogs. Das ist nicht gelungen. Jetzt muss man darüber nachdenken, diesen Dialog wieder in Gang zu bringen.

Würden Sie Putin wieder treffen wollen?

Derzeit sehe ich keinen Anlass dazu. Was soll ich ihm sagen? Aber ich könnte mir vorstellen, dass ein Jean-Claude Juncker auslotet, wo eine Substanz für eine künftige Lösung liegen könnte. 

Sie fordern ein EU-Mandat für Juncker?

Ja. Das wäre wünschenswert