Christiane Spiel
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"Stereotype bremsen die Entwicklung"

Psychologin Christiane Spiel warnt vor festgefahrenen Erziehungs- und Ausbildungsmustern für Mädchen und Burschen. Beim MINT-Congress in Leoben spricht sie am 17. April auch über volkswirtschaftliche Folgen.

Lesedauer: 2 Minuten

Aktualisiert am 05.08.2023

Sie diagnostizieren bei der Erziehung und im Bildungssystem noch immer konservierte Geschlechterstereotype für Mädchen und Buben. Wo machen Sie die fest?

Christiane Spiel: Schon das Spielzeugangebot ist sehr geschlechtstypisiert. Neben den typischen Mädchen- und Bubenspielzeugen, wie Barbies und Transformers, gibt es auch bei Spielzeug, das eigentlich für beide Geschlechter ist, spezifische Varianten für Mädchen und Buben. Auch Eltern kaufen für ihre Kinder Spielzeug entsprechend den Stereotypen. Konservierte Geschlechtsstereotype setzen sich bei Lehrpersonen in der Einschätzung der Qualifikation für Studienrichtungen bei Mädchen und Buben fort: Mädchen werden als besonders qualifiziert für Lehramtsstudien gesehen, Buben für Studien der Ingenieurswissenschaften. 

Wie sehr schaden diese festgefahrenen Spurrillen der Gesellschaft?

Geschlecht ist ein hervorstechendes Merkmal. Daher werden, wenn man jemanden kennenlernt, häufig unbewusst Geschlechtsstereotype aktiviert und Frauen und Männer entsprechend bewertet. Erst wenn man sich besser kennenlernt, nimmt man die Individualität wahr. Wenn ein näheres Kennenlernen jedoch nicht möglich ist, besteht die Gefahr, dass die geschlechtsstereotype Bewertung aufrecht bleibt und sich sogar verfestigt. Das ist für die Entwicklung der Gesellschaft in Richtung einer Auflösung derartiger Stereotype problematisch. 

Wie sehr bremst das Hineinpressen in dieses Bildungskorsett die Entwicklung?

Geschlechtsstereotype haben nicht nur deskriptive Anteile – wie sind Mädchen und Buben –, sondern auch präskriptive: Wie sollten Mädchen und Buben sein. Damit schränken sie den Handlungsspielraum bei Buben und Mädchen, die diese Stereotype zumindest teilweise übernehmen, ein, wie sich bei der Wahl von Ausbildungen und Berufen zeigt.

Welche Chancen vergeben sich in weiterer Folge auch Unternehmen, wenn sie bei der Suche nach Fachkräften dieses „Rosa-blau“-Schema weiterpflegen?

Die Probleme, die sich daraus ergeben, gehen in beide Richtungen: Im MINT-Bereich sind – zum Nachteil von Unternehmen – Frauen unterrepräsentiert, in den Bildungsinstitutionen fehlen die Männer. Kinder bräuchten jedoch sowohl weibliche als auch männliche Bezugspersonen. Leider zeigt sich, dass, wenn der Frauenanteil in einem Beruf sehr hoch wird, die Männer „hinausgehen“. Meist sind das Berufe mit niedrigem Status und entsprechend wenig Verdienst. 

Ergeben sich daraus auch volkswirtschaftlich negative Konsequenzen?

Negative volkswirtschaftliche Konsequenzen haben die bei weitem nicht ausreichenden Angebote an Kinderkrippen und Kindergärten. Denn dadurch besteht ein Druck auf Frauen, zu Hause zu bleiben oder zumindest nicht vollzeitig zu arbeiten. Dieser Druck besteht, entsprechend des Geschlechtsstereotyps, natürlich nicht für Männer. Eine der Konsequenzen ist die Altersarmut bei Frauen.

Was müsste sich ändern?

Geschlechtsstereotype wirken im Allgemeinen unbewusst. Fast niemand würde heute wohl sagen, dass Frauen schwach sind und an den Herd gehören, während Männer stark sind und die Familie erhalten müssen. Aber gerade weil Geschlechtsstereotype nicht bewusst sind, ist es schwierig, sie zu verhindern. Wichtig wäre eine Sensibilisierung der Gesellschaft dahingehend, dass jede und jeder sein eigenes Verhalten zu Mädchen und Buben, zu Frauen und Männern reflektiert.

Bietet unser Ausbildungssystem passende Rahmenbedingungen, damit die notwendigen Änderungen Platz greifen können?

Man kann das Thema Geschlechtsstereotype und wie Bildungsprozesse geschlechtssensibler gestaltet werden können, aktiv in die Bildungsinstitutionen integrieren. Wir haben dazu ein Programm für Lehrpersonen entwickelt, mit sehr positiven Effekten. Noch besser ist es, wenn man bereits im Kindergarten damit beginnt. Auch dafür haben wir ein Programm entwickelt, das auch die Eltern mit einbezieht, was sehr wichtig ist.

Wie sehr hat diesbezüglich die Covid-Krise überholt geglaubte Geschlechterrollen wieder reaktiviert?

Mütter hatten während Covid multiple Aufgaben: Sie waren in den meisten Fällen für den Haushalt zuständig, für das Lernen mit den Kindern und viele auch für ihren Beruf. Dass dadurch Geschlechtsstereotype nicht abgebaut, sondern eher verstärkt wurden, ist wohl nachvollziehbar.  



Zur Person: 

Christiane Spiel ist Psychologin, Historikerin und Mathematikerin und leitete das Institut für Angewandte Psychologie der Universität Wien. Sie mitbegründete die Bildungspsychologie als wissenschaftliche Disziplin. Beim MINT-Congress an der Montan-Universität Leoben von 17. bis 19. April hält sie eine Keynote.