Markus Hengstschläger im Anzug, gestikulierend.
© Günther Pichlkostn

Markus Hengstschläger im Interview: „Es fehlt uns an Lösungsbegabungen“

Der Genetiker Markus Hengstschläger kritisiert die Begeisterung für Katastrophen-Reporting und sieht in Künstlicher Intelligenz eine Leittechnologie.

Lesedauer: 4 Minuten

Aktualisiert am 05.08.2023

Im Zuge des Arbeitskräftemangels ist viel von Talenteförderung die Rede. Ein Talent – was ist das überhaupt?

Markus Hengstschläger: Talente und Begabungen sind Potenziale eines Menschen, die auch genetisch mitbestimmt sind.

Sind doch die Gene schuld?

Hengstschläger: Ihr Einfluss wird weit überschätzt, sie dienen oft nur für eine „genetische Ausrede“: Man beruft sich darauf, dass man ein Talent hat – oder eben nicht. Und wenn nicht, brauche man es gar nicht erst probieren. Wenn es in Österreich um Zukunft geht, hört man auf die Aufforderung, doch einmal etwas Neues auszuprobieren, ja häufig „Ich glaube, das ist nicht Meins“. Nachsatz: „Und da bleib’ ich auch authentisch.“ – Heißt übersetzt: „Ich habe keine Lust – und das wird sich auch nicht ändern.“ Der Mensch ist bei seinen Begabungen aber nicht auf seine Gene reduzierbar. Die Gene sind maximal Bleistift und Papier, die Geschichte schreibt jeder selbst.

Ein Beispiel? 

Hengstschläger: Wenn in einer Familie ein Kind geboren wird, ist oft schon ein Hund im Haus. Die Eltern beginnen, mit dem Kind zu reden, und es lernt zu sprechen. Dieses Erlernen der Sprache ist eine der größten Leistungen im Leben eines Menschen – und unterscheidet den Homo sapiens von allen anderen biologischen Spezies auf dieser Welt. Der Hund hat das nämlich auch alles gehört – spricht aber kein Wort. Der Mensch spricht aber auch nicht automatisch. Wenn man mit einem Kind von Geburt an nicht spricht, wird es kein einziges Wort sprechen. Das bedeutet: Talente und Begabungen sind Potenziale – aber wenn man sie nicht entdeckt, fördert und fordert, kommt überhaupt nichts raus. 

Haben wir genug Talente?

Hengstschläger: Jeder Mensch hat Talente, nur hat jeder andere. Wir dürfen Talente nicht werten. Jeder Mensch kann etwas Besonderes leisten, ob im Handwerk, in der Wissenschaft, im sozialen Bereich, in Sport, Musik. Ich mache mir auch keine Sorgen um mathematische, naturwissenschaftliche, technische Begabungen in Österreich: Es gibt kaum ein Land, in dem es so viele Angebote – von der Lehre über die Fachhochschulen bis zu den Universitäten – gibt. Jetzt liegt es an uns, Menschen dafür zu begeistern. Aber meine Sorge ist, dass wir die wichtigste Begabung mit weitem Abstand am meisten ignorieren.

Welche wäre das?

Hengstschläger: Ich nenne es Lösungsbegabung. 

Was ist das? 

Hengstschläger: Die Fähigkeit, Lösungen zu entwickeln für Fragestellungen, für die es noch keinerlei Lösungen gegeben hat. Dafür muss es aber möglich sein, diese Begabung durch das Üben von Lösungsfindungsprozessen zu entfalten.

Woran machen Sie fest, dass uns das fehlt?

Hengstschläger: Es gibt auch kaum ein Land, in dem wir uns so schnell sicher sind, dass wir ein Problem haben. Wir erzählen uns gegenseitig, was wir alles nicht zusammenbringen, und reporten uns Katastrophen, haben aber keine Lösungsvorschläge. Und wir nehmen der nächsten Generation zu oft den Lösungsfindungsprozess ab. Es beginnt schon bei der Erziehung von Kleinstkindern. Da sagen wir bei Problemen: „Beweg dich nicht!“ – damit das Kind ja nichts ausprobiert. Dann folgt „Und jetzt hör einmal gut zu!“ – und wir sagen dem Kind die Lösung. Und wenn dann später ein Problem auf das Kind zukommt, rührt es sich zunächst nicht und sucht jemanden, der ihm die Lösung sagt. 

Wo klemmt es diesbezüglich in unserem Bildungssystem?

Hengstschläger: Unser Ausbildungssystem funktioniert nach dem Prinzip „Je näher die individuelle Lösung der durchschnittlichen kommt, desto besser wird die Note“. In Österreich kommt man zwar individuell, flexibel und kreativ auf die Welt. Man muss sich in unserem System aber sein ganzes Leben dagegen wehren, als Durchschnitt zu sterben.

Was müsste sich ändern?

Hengstschläger: Wir konzentrieren uns zu sehr auf das Weitergeben bereits bestehenden Wissens. Das hat durchaus seine Berechtigung, weil Wissen heißt, dass man Bewährtes bewahrt. Man will ja nicht, dass jede Generation das Rad neu erfinden muss. Dieses etablierte Wissen muss man durch gerichtete Bildung in die nächste Generation transportieren. Wir müssen in Ausbildung und Bildung aber auch mehr Wert darauf legen, ungerichtete Kompetenzen zu vermitteln und deren Üben zu fördern. Dabei geht es um Kreativität, kritisches Denken, Recherchieren-Können, Teamfähigkeit, Entscheidungsfreudigkeit, Ethik und vieles mehr. Gemeinsam mit Wissen bilden diese ungerichteten Kompetenzen die beste Voraussetzung für das Entwickeln von individueller und kollektiver Lösungsbegabung.

Wir lagern die Suche nach Lösungen zunehmend auf Künstliche Intelligenz (KI) aus. Wohin führt das? Verblöden wir?

Hengstschläger: KI ist in der digitalen Transformation eine Leittechnologie, die, wenn sie entsprechend durch digitale Bildung und digitale Ethik begleitet wird, enorme Vorteile für den Menschen bietet. Der Mensch kann das Werkzeug KI sehr gut dafür einsetzen, seine Lösungsbegabung zur Entfaltung zu bringen. Sie ist ethisch neutral. Die Frage ist, was der Mensch damit macht. 


Zur Person Markus Hengstschläger

Der Genetiker forschte unter anderem an der Yale University und ist heute Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Med-Uni Wien. Zudem leitet er den Think Tank Academia Superior und ist stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission.