„Nähe ist neues Herzass“
Univ.-Prof. Dr. Christoph Teller und Dr. Ernst Gittenberger sprechen im Interview über das Konsumverhalten in Niederösterreich und welchen Beitrag die neue WKNÖ-Kampagne #ichkauflokal für das Regionalitätsbewusstsein leisten kann.

Wirtschaft NÖ: Inwieweit haben Covid-19 und der Ukraine-Krieg das Konsumverhalten der Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher beeinflusst?
Christoph Teller: Wir haben am Institut für Handel, Absatz und Marketing (IHaM) die Krisenzeit mit zahlreichen Studien wissenschaftlich begleitet. Ein Phänomen ist sehr schnell in unseren Ergebnissen aufgetaucht – die Nähe. Wenn Krisen wie Covid-19 oder in der Ukraine unser Einkaufsverhalten verändert haben, dann hat dies mit Nähe zu tun. Damit ist jedoch nicht nur geographische, sondern auch psychologische und soziale Nähe gemeint. Nähe ist ein Hebel für Vertrauen, das vor allem in Krisenzeiten unser Konsumverhalten im Allgemeinen beziehungsweise die Wahl eines bestimmen Geschäftes, Lokals, Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebes (positiv) beeinflusst. Und genau hier setzt die aktuelle Regionalitätskampagne „#ichkauflokal“ der Wirtschaftskammer Niederösterreich an.
Was macht die regionale Wirtschaft aus Sicht der Konsumentinnen und Konsumenten aus?
- Teller: Die Domäne der regionalen Wirtschaft ist die Nähe. Der Wunsch der Konsumentinnen und Konsumenten nach Nähe äußert sich in der verstärkten Nachfrage nach regionalen Produkten, der Wichtigkeit der Herkunft von Produkten und vor allem in der Präferenz regionaler Betriebe. So haben zum Beispiel 53 Prozent der erwachsenen Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher den Einkauf im (regionalen) stationären Einzelhandel während der Corona-bedingten Lockdowns vermisst. Für 20 Prozent wird die Nähe der Geschäfte – beziehungsweise auch weiterer Wirtschaftsbetriebe – in Zukunft wichtiger werden, für 77 Prozent weiterhin wichtig bleiben.
Die #ichkauflokal-Kampagne liegt voll im Trend der Zeit
Welche Aspekte sind hinsichtlich der Nähe noch relevant?
- Ernst Gittenberger: Nähe muss auch im Zeichen der sprunghaft steigenden Energiepreise betrachtet werden. 87 Prozent der niederösterreichischen Haushalte verfügen über zumindest einen PKW. Das bedeutet, dass die steigenden Benzin- und Dieselpreise im Zuge des Ukraine-Krieges nahezu alle Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher trifft.
Was bedeutet das konkret für die Regionalität?
- Gittenberger: Der sprunghafte Anstieg der Treibstoffpreise verändert unser Mobilitäts- und Einkaufsverhalten. Regionalität in Bezug auf räumliche/physische Nähe gewinnt hier – auch unter einem Kostenaspekt – wiederum an Bedeutung.
54 Prozent der Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher ab 18 Jahren wollen weniger Autofahren. 39 Prozent wollen kurze Wege mehr zu Fuß zurücklegen. Und 24 Prozent erledigen ihre Einkäufe und Besorgungen jetzt öfters im nahen Umfeld zu Fuß bzw. mit dem Fahrrad.
Der Kostenaspekt hat somit auch einen Umweltaspekt. Voraussetzung dafür ist ein starkes Angebot der regionalen Wirtschaft mit entsprechendem Service, das mit der Kampagne #ichkauflokal gestärkt werden soll. Denn Service ist für 71 Prozent der Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher (sehr) wichtig beim ladengebundenen Einkauf.
53 Prozent haben im Lockdown den Einkauf im regionalen stationären Handel vermisst.
Und welchen Beitrag kann die von der Wirtschaftskammer NÖ gestartete Regionalitätskampagne #ichkauflokal hier leisten?
- Gittenberger: Die #ichkauflokal-Kampagne liegt voll im Trend der (Krisen-)Zeit. Aktuelle Entwicklungen in den Krisen zeigen sehr klar, dass regionale Angebote für die Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher (wieder) eine große Rolle spielen – durch steigende Treibstoffpreise bis hin zum Vertrauen in die regionale Wirtschaft.
Teller: Besonders bemerkenswert ist: Auch in der derzeitigen Krise ist die physische Nähe das „neue Herzass“, weil billiger. Daher könnten auf Grund der kurzen Wege regionale Geschäfte beziehungsweise Gastro-, Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe in unmittelbarer Umgebung der Konsumentinnen und Konsumenten profitieren.
Die Kampagne #ichkauflokal soll und kann diese Entwicklungen verstärken.
Warum hat die Kampagne in Ihren Augen das Potential, das Regionalitätsbewusstsein nachhaltig zu verstärken?
- Teller: Die Kampagne setzt bewusst nicht auf den Mitleidseffekt oder den moralischen Fingerzeig.
Es wird vielmehr daran erinnert, dass die regionale Wirtschaft qualitäts- wie auch service-stark den überregionalen oder auch internationalen Wettbewerb nicht scheuen muss. Frei nach Goethe im wirtschaftlichen Kontext „... das Gute liegt so nahe“.
www.jku.at/ham
Zu den Personen
Ernst Gittenberger (im Bild links) hat über 20 Jahre Erfahrung in der Wirtschaftsforschung mit Spezialgebiet Handels- und Konsumentenforschung. Gemeinsam mit Cornelia Kohlross-Gittenberger hat er im Februar 2020 die kger OG gegründet, die sich auf Organisationsberatung und Wirtschaftsforschung spezialisiert.
Zudem lehrt und forscht Gittenberger seit November 2019 am Institut für Handel, Absatz und Marketing der Johannes Kepler Universität Linz.
Christoph Teller ist Wirtschaftswissenschaftler und seit Oktober 2019 Professor an der Johannes Kepler Universität Linz (JKU). Er leitet das Institut für Handel, Absatz und Marketing (IHaM), wo er als ausgewiesener Handelsexperte forscht und lehrt. Von 2008 bis 2011 war Teller Senior Lecturer für Retailing und Marketing an der Uni Stirling (Schottland).
Ab 2011 war er an der University of Surrey (England) Professor für Marketing und Handel.